Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit.
Der brasilianische Erzbischof Dom Hélder Câmara (1909–1999) war ein großer Verehrer des heiligen Vinzenz von Paul. Er prägte den Ausspruch: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“ Damit beschreibt Câmara ein wesentliches Charisma des heiligen Vinzenz, das eine ganze Gesellschaft verändern sollte.
Es begann mit einem Erlebnis, das wir als Geburtsstunde der organisierten Caritas sehen können: Kurz nachdem Vinzenz 1617 zum Pfarrer von Châtillon-les-Dombes ernannt worden war, wandten sich Mitglieder der Pfarre an ihn wegen der Not einer Familie. Vinzenz selbst berichtet darüber: „Während ich mich eines Sonntags ankleidete, um die heilige Messe zu feiern, sagte man mir, dass in einem abgelegenen Haus alle Bewohner krank waren. Keiner war in der Lage, den anderen zu helfen, sodass sie sich in einer unbeschreiblichen Notlage befanden. Das berührte mich tief. Während der Predigt empfahl ich die Familie mit Enthusiasmus der Gemeinde. Gott bewegte die Herzen meiner Zuhörer und erfüllte sie mit Mitleid für diese armen, leidenden Menschen.“
Am Abend besuchte Vinzenz die Familie und traf auf dem Weg viele Menschen, die zu dem Haus gingen oder von dort kamen. Jeder von ihnen brachte Essen für die Familie. Als Vinzenz selbst die große Not der Menschen sah, spendete er den Schwerkranken die Sakramente und überlegte beim Anblick der großen Menge an Nahrungsmitteln: „Zweifellos zeigt das, dass die Menschen eine große Nächstenliebe haben, aber ist das gut organisiert? Die arme, kranke Familie wird überwältigt sein von so viel in so kurzer Zeit, und das meiste wird verderben.“
Vinzenz wurde klar, dass diese karitative Aktion organisiert werden muss. Am gleichen Abend setzte er seinen Plan in die Tat um und drei Tage später, am 23. August 1617, organisierte er „die erste Gruppe frommer Frauen, die vom Geist des Mitleids erfüllt waren“. Er ermutigte sie, einen Verein zu gründen, der für die Kranken in ihren Häusern sorgen würde. Vinzenz selbst stellte eine erste Regel auf und übernahm die spirituelle Begleitung dieses Vereins.
Der Erfolg war so großartig, dass mit Hilfe von Vinzenz auch in Paris und an anderen Orten solche Caritasvereine gegründet wurden. In Paris übernahmen adelige Damen diese Aufgaben und unterstützten die Arbeit auch mit ihren finanziellen Mitteln. Eine besondere Bedeutung kam hier der adeligen Witwe Louise von Marillac zu, die Vinzenz als Visitatorin zu den Caritasvereinen schickte. Durch ihr spirituelles Leben und ihre ausgezeichnete Bildung wurde sie später auch die ideale Mitbegründerin der Barmherzigen Schwestern. Mit ihnen übernahm sie immer mehr Aufgaben, die von den adeligen Damen nicht übernommen werden konnten.
Die uns heute bekannte internationale Hilfsorganisation der Caritas geht also nicht direkt auf den heiligen Vinzenz von Paul zurück – sie wurde erst 1897 in Köln von Lorenz Werthmann gegründet und breitete sich von dort aus. Maßgebend für die Gründung war aber unter anderem die Spiritualität der tätigen Nächstenliebe, die Werthmann als Mitglied des Vincentiusvereins in Freiburg kennen gelernt hatte. Mit der Gründung des ersten Vereins in Frankreich hatte Vinzenz so den Grundstein für die organisierte Caritas in der Kirche gelegt, die heute ein unverzichtbarer Teil der christlichen Verkündigung ist.

Sr. Cordula Kreinecker, Generaloberin, Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul, Wien-Gumpendorf
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