Lebensfreude, bunte Kleidung, Mangos zum Frühstück oder Ananas, deren Süße in Österreich ihresgleichen sucht: Was kommt Ihnen bei Kolumbien als Erstes in den Sinn? Fragt man die sieben Reisenden aus Österreich, die vor kurzem Hilfsprojekte von „Sei So Frei“ und der „Fundación Madre Herlinda Moises“ (FMHM) an der Karibik-Küste besucht haben, könnte die Antwort lauten: Das Land, die Tierwelt und die Menschen erscheinen paradiesisch. Doch auf den zweiten Blick weicht die vermeintliche Idylle oft großer Armut.
Für einen großen Teil der kolumbianischen Bevölkerung bleibt viel von dem, was in Österreich im Alltag als selbstverständlich gilt, ein Wunschtraum. Fast 40 Prozent der 50 Millionen Menschen in diesem südamerikanischen Land haben nicht genug zu essen, kaum Geld für medizinische Versorgung oder hochwertige Bildung. Und wie überall trifft Armut besonders jene hart, die noch zu jung sind, um für sich selbst zu sorgen.
Einer von ihnen ist Jesús. Als der Sohn einer Alleinerzieherin von acht Kindern als Volksschulkind erstmals vom Armenviertel ins Zentrum der „Fundación Madre Herlinde Moises“ (FMHM) in Pasacaballos kommt, nimmt sein Leben eine Wende.
Heute ist Jesús am Ende seiner Schullaufbahn, engagiert sich ehrenamtlich für den Umweltschutz und denkt als talentierter Maler an ein Kunststudium an der Universität von Cartagena. All das, und dass er als 16-Jähriger mit einer Entwicklungsstörung im Autismus-Spektrum im Interview ruhig und besonnen anwortet, ist der Beziehungs- und Sozialarbeit eines engagierten Teams im FMHM zu verdanken.
Um nicht in die Kriminalität zu schlittern, wo Jugendliche aus den Slums das schnelle Geld erhoffen, brauche es neben Schule und sinnstiftenden Freizeitangeboten vor allem eines: das Zutrauen in Kinder aus den Armenvierteln, bekräftigt Marina Mosquerk (Interviewspalte rechts) von der Madre-Herlinda-Stiftung.
Schauplatzwechsel. Am Hafen von Cartagena de Indias spricht Reinhold Oster über die Kolonialgeschichte seiner Wahlheimat. „Nur wenige Meter von uns legten im 17. Jahrhundert die Schiffe mit den Sklaven an“, sagt der ehrenamtliche Leiter der FMHM zur siebenköpfigen Reisegruppe aus Österreich.
Mit 18 Jahren kam der gebürtige Deutsche zum ersten Mal nach Kolumbien, um – dem befreiungstheologischen Geist der 1970er-Jahre folgend – „Entwicklungshilfe“ zu leisten. Hier lernte er auch seine Frau kennen sowie Schwester Herlinde Moises (Spalte rechts), eine gebürtige Bad Hofgasteinerin. Mit Ersterer gründete er eine Familie, mit Letzterer zahlreiche Hilfsprojekte in Dörfern und in den trostlosen Wellblechhütten-Siedlungen der Millionenstadt – zur Ehre Gottes und zum Dienst an Menschen, die nicht genug zum Leben haben, hier im vermeintlichen Paradies.
Hilfe aus den Alpen
Sr. Maria Herlinde Moises (1928 bis 2006) brach vor mehr als 70 Jahren von Österreich nach Kolumbien auf. Ihren Einsatz gegen die Armut führen ihre Schwester Margaretha Moises und Organisationen wie Sei So Frei fort.
Als Missionarin kommt Maria Herlinde Moises nach Kolumbien. Die 1952 in Bad Hofgastein geborene Bauerntochter verschreibt sich bald der Arbeit für die Armen. In den Flussdörfern an der Karibik-Küste nahe Cartagena hilft sie mit Bildung und medizinischer Versorgung. Unterstützung kommt von Sei So Frei, der entwicklungspolitischen Organisation der Katholischen Männerbewegung.
Als furchtlos und willensstark beschreiben Wegbegleiter die Franziskanerin. Mit der landlosen Bevölkerung besetzt Sr. Herlinde brach liegendes Land von Großgrundbesitzern und Banken. Sie wird dafür verhaftet, eingesperrt und zeitweise aus Kolumbien ausgewiesen. Heute gilt sie in dem nach ihr benannten „Barrio“ (Viertel) „Madre Herlinde“ als Heilige. 1982 erhält sie den Oscar-Romero-Preis der Katholischen Männerbewegung.
Im Gespräch
Interview mit Marina Mosquerk. Sie ist Sozialarbeiterin der „Fundación M. Herlinda Moises“.
RB: Sie arbeiten im Armenviertel einer 19.000-Einwohner-Gemeinde im Norden Kolumbiens. Wie wachsen Kinder hier auf?
Marina Mosquerk: Kinder aus sozial benachteiligten Familien sind stark gefährdet, in Prostitution oder Drogenhandel abzurutschen, oft schon ab einem Alter von zehn Jahren. Wird ein Mädchen schwanger, übergibt es ihr Kind oft anderen, um weiter Geld verdienen zu können. Statistiken zeigen, dass zurückgelassene Kinder oft vernachlässigt und später selbst früh Eltern werden.
RB: Als Sozialarbeiterin setzen Sie das vor 60 Jahren gegründete Werk von Sr. Herlinde Moises fort. Wie hat sich die Arbeit verändert?
Mosquerk: Wir müssen nur auf die Kinder blicken. In den 1980er-Jahren gab es nur zehn Absolventen mit Matura. Heute haben wir 180 Abschlüsse im Jahr. Vor 60 Jahren war Bildung kaum institutionalisiert. Jetzt gibt es Kindergärten, Unterricht in den ersten fünf Schulstufen und damit eine komplette Grundschulbildung. Im Anschluss daran können die SchülerInnen das Gymnasium im Nachbardorf besuchen.
RB: Was ist in Ihrer Arbeit vorrangig?
Mosquerk: Vor allem die Zusammenarbeit mit den Eltern. Erst, wenn sie die Bedeutung von Bildung erkennen, können wir die Kinder zum Schulbesuch motivieren. Statistiken zeigen, dass Mädchen mit Schulabschluss nicht so früh Mütter werden.
In Recreo erleichtert eine Maschine die mühevolle Arbeit des Reis-Schälens. Eine Bäuerin zeigt Helmut Dachs (l.) von Sei So Frei und Reinhold Oster (FMHM) den durch Spenden finanzierten Apparat. Das ganze Dorf profitiert.
Dunkle Seite im vermeintlichen Paradies. Kinder in den Tourismusgebieten sind missbrauchsgefährdet. Die Gefahr droht auch mittels Internet: 48.000 Fälle von sexueller Ausbeutung im Internet innerhalb von sechs Jahren meldet UNICEF.
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