RB: Weltweit war die Anteilnahme am Tod von Papst Franziskus und der Trauerfeier groß und jetzt das Interesse am Konklave. Wie passt das mit dem Bedeutungsrückgang der Kirchen zusammen?
Marco Politi: Es hat nach dem Tod des Papstes ein ganz großes Interesse an der Persönlichkeit von Franziskus gegeben. Man sieht, dass er als Mensch und als Papst, der den Menschen nahe war, sehr viel Wertschätzung gefunden hat: in verschiedenen Ländern, bei den unterschiedlichsten Menschen, bei Jungen wie Alten, bei Menschen anderer Religionen und auch bei Nicht-Glaubenden. Das bedeutet, dass der Papst mit seiner Nähe zu den Menschen und seiner Idee, dass ein Christ ein guter Samariter sein muss und sich um diejenigen kümmern muss, die am Rande stehen, die verwundbar sind, die ausgeschlossen sind, dass das den Leuten zu Herzen gegangen ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass gleichzeitig doch eine Kluft besteht, zwischen dem Papst als Persönlichkeit und der Beziehung zur Kirche, das haben wir auch zur Zeit von Johannes Paul II. gesehen. Es gibt sehr viele Menschen, die sich dem Papst sehr nahe fühlen. Das ist auch an den Schlangen abzulesen, die sich gerade vor Santa Maria Maggiore bilden, in der Kirche, in der sich sein Grab befindet. Andererseits habe viele keine oder eine sehr lose Beziehung zur Kirche als Organisation.
RB: Sie ziehen in Ihrem Buch „Der Unvollendete“ eine gemischte Bilanz zum Pontifikat von Papst Franziskus. Würden Sie nach den vergangenen Wochen noch etwas hinzufügen?
Marco Politi: Ich möchte es umgekehrt sagen. Nach der Recherche über das Pontifikat von Franziskus und die Probleme, würde ich sagen, das Geschriebene kann heute ein Prüfstein sein. Die Fragen, die Franziskus nicht gelöst hat, betreffen nun den neuen Papst. Es sind auch Themen, die in den Vorkonklave-Versammlungen behandelt werden. Ein Beispiel ist die Frage des Diakonats der Frauen, die ungelöst ist. Franziskus hat die Diskussion erlaubt. Franziskus hat Frauen in Führungspositionen der römischen Kurie gebracht, er hat Frauen und Laien Stimmrecht in der Weltsynode gegeben. Das muss jetzt in der Kirche entweder vollständig ausgebaut oder gestoppt werden. Das, was Franziskus unvollendet gelassen hat, ist jetzt eine Herausforderung für den neuen Papst.
RB: Papst Franziskus hat Türen geöffnet, aber vieles wie Sie sagen, ist auf halber Strecke liegen geblieben. Was von dem ist für Sie voranzustellen?
Marco Politi: Das ist ganz bestimmt auch die Frage der homosexuellen Paare. Der Papst hat hier einen Alleingang gemacht betreffend der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Er sagte, wer bin ich, ein Urteil zu fällen. Aber er hat nicht den Katechismus angetastet. Das muss man jetzt in Einklang bringen, sonst bleibt dieser Widerspruch. Die großen Themen sind jene, die Franziskus von seinem Krankenhausbett noch für die nächsten drei Jahre auf den Tisch gebracht hat. Denn er hat die Entscheidung getroffen, dass die Weltkirche jetzt drei Jahre arbeiten muss: auf allen Ebenen, also Pfarren, Diözesen, Bischofskonferenzen, kontinentale Treffen, um die wichtigsten Punkte des Enddokuments der Synode 2024 in die Tat umzusetzen.
Hier gibt es drei Punkte.
1. Frauen in allen Kontinenten, auf allen Niveaus in Positionen zu bringen, wo man Entscheidungen trifft.
2. Überall in der Kirche beratende und mitbestimmende Gremien zu organisieren, wie es bei uns etwa die Pastoralräte sind.
3. In den kirchlichen Strukturen eine Rechenschaftsmentaliät einzuführen, das kommt vom englischen „accountability“. Es bedeutet unter anderem, dass sich der Bischof zum Beispiel alle fünf Jahren mit Vertretern des Volkes Gottes, mit den Pries-
tern, Ordensleuten, Diakonen und den Laien an einen Tisch setzt und sagt: Wo haben wir gut gearbeitet für unsere Mission, wo müssen wir etwas korrigieren?
Diese Mentalität der Mitbestimmung ist eines der Themen, die vor dem neuen Papst liegen. Eine andere Aufgabe ist natürlich weiter eine prophetische Stimme zu sein auf geopolitischer Ebene – Stichwort Frieden im Nahen Osten, der Ukraine und den anderen Krisenschauplätzen der Welt.
Viele Kardinäle kennen sich nicht gut – und wir sie noch weniger. Deshalb kann man keine Überraschung ausschließen.
RB: Es heißt doch: Der eine sät und der andere erntet. Könnte das auch auf das Pontifikat von Franziskus und seinen Nachfolger zutreffen?
Marco Politi: Ja, wenn er die Saat weiter behütet und zur Reife kommen lässt. Das ist die Frage, die die Kardinäle zu beantworten haben: Soll man weitermachen oder bremsen? Wird ein neuer Papst mit seiner Persönlichkeit, mit seiner Geschwindigkeit, mit seinem Temperament, mit seiner Geduld diese Baustellen zu Ende führen?
RB: Sie haben davon gesprochen, die Kirche befände sich in einer Zerreißprobe. In welcher Atmosphäre geht nun das Konklave über die Bühne? Was muss der neue Papst mitbringen?
Marco Politi: Die Kirche ist zersplittert. Deshalb braucht es jemanden, der diese zerrissenen Teile wieder zusammenbringt. Man braucht einen Vermittler. Franziskus selbst hat in den Mediationen für den Karfreitag-Kreuzweg davon gesprochen, dass die Kirche ein zerrissenes Gewand hat, dass die Jünger Christi gespalten sind. Und er hat Gott um Einheit und Frieden gebeten.
Es geht nicht nur um eine ideologisch-theologischen Spaltung. Wir haben in der Weltkirche verschiedene Geschwindigkeiten. Die Deutschen gehen ihren synodalen Weg oder die afrikanischen Bischofskonferenzen sagen Nein zu dem Segen für homosexuelle Paare. Diese Unterschiede muss man überbrücken; das macht diese Wahl besonders schwierig und interessant. Es ist die schwierigste Wahl der vergangenen 50 Jahre. Und es muss auch eine Persönlichkeit sein, die den Kontakt zu den Menschen hat: also ein gemäßigter und ein menschennaher Papst.
RB: Die Zeit sei noch nicht gekommen für einen Papst aus dem afrikanischen Kontinent meinten Sie – aber für einen Papst aus Asien?
Marco Politi: Afrika ist ein großer Kontinent, auch mit Bischöfen, die in der Mitte stehen. Blicken wir auf Asien, sprechen wir meist von Kardinal Luis Antonio Tagle, aber es sind noch andere da, die wir nicht so gut kennen. Franziskus hat das Kollegium fast nie zum Meinungsaustausch über die Situation der Kirche zusammengerufen. Viele Kardinäle kennen sich nicht gut – und wir sie noch weniger. Deshalb kann man keine Überraschung ausschließen. Die Diskussionen in den Kardinalsversammlungen vor dem Konklave sind sehr lebhaft. Die Kardinäle „vom Ende der Welt“ wollen zu Wort kommen. Deshalb ist es kaum vorauszusagen, ob im Konklave tatsächlich alles so blitzartig vorangehen wird.
Buchtipp
„Vatikan-Insider“ Marco Politi zieht Bilanz: Was hat sich durch Franziskus in der Kirche verändert? Welche Themen bleiben offen? Und er blickt auf die großen Fragen: Was hinterlässt Franziskus seiner Kirche? Was für einen Papst suchen die Kardinäle mit Blick auf das nächste Konklave? Was muss der nächste Papst stemmen und wohin bewegt sich der Vatikan?
Marco Politi, Der Unvollendete, Franziskus‘ Erbe und der Kampf um seine Nachfolge, Freiburg 2025, Herder Verlag, 240 S., ISBN 978-3-451-39745-5.
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