
So etwas wie eine „abgeschlossene Trauerphase“ scheint es nach dem Verlust des eigenen Kindes nicht zu geben. Das wird an jenen Beispielen deutlich, die Clemens Sedmak auch fünf Jahre nach dem Suizid seines jüngsten Sohnes Jonathan „aus dem Gleichgewicht“ bringen: Etwa wenn immer noch Mails und Briefe für Jonathan kommen oder jemand im Small-Talk fragt: „Wie viele Kinder habt ihr? Und was machen die?“ Sedmak muss dann oft an den britischen Dichter William Wordsworth denken. Dessen Werk „We are Seven“ über eine Familie, die Kinder verloren hat, lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Wir sind sieben. Ein paar sind noch da, aber ein paar sind halt schon woanders.“
Sedmaks Buch „Wenn das Unvorstellbare geschieht“ kreist in diesem Sinne um die Fragen: „Was hat das Geschehene mit mir gemacht? Und was hat das mit der Theologie zu tun?“ Ihn beschäftigt die Disruption durch das „Unwiderrufbare“, dass es „nie wieder so sein wird, wie es war“ – und das Trauma des damit verbundenen Vertrauensverlusts („die Welt hat mir das angetan“).
Die weltlichen Bilder, mit denen der Theologe seine Gefühle beschreibt, sind gut gewählt: Das Leben als Expedition, die aus Verantwortung für die Beteiligten fortgesetzt werden muss, obwohl man ein Expeditionsmitglied verloren hat. Das Weitergehen und Weitermachen trotz schwerer Schicksalsschläge, weil Christinnen und Christen ihr Leben als „Pilgerweg auf Erden“ begreifen.
Der Eindruck, nur „Gast auf Erden“ zu sein, habe sich für Sedmak seit dem tragischen Ereignis verschärft: „So sehr, dass ich immer das Gefühl habe, ich bin mit einem Fuß da und mit einem Fuß woanders.“ Oder wie es der verstorbene Tübinger Alttestamentler Fridolin Stier nach dem Tod seiner Tochter durch einen Autounfall ausdrückte: „Jemand, der ich bin, ist mit dir über die Schwelle getreten – und jemand, der auch ich bin, ist zurückgeblieben.“ Genauso fühle er sich jetzt auch, sagt Sedmak, denn da seien nach wie vor der Glaube und die Hoffnung: „Ich glaube fest, dass Jonathan im Licht ist.“
Viele Bibelstellen würde er heute anders als früher lesen, verrät der Theologe, „weil sie sich einfach anders anfühlen“. So heißt es im Johannes-Evangelium (Joh 16, 6–7, 22): „Vielmehr ist euer Herz von Trauer erfüllt ... doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen ... So seid auch ihr jetzt bekümmert, aber ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen und niemand nimmt euch eure Freude.“ An Bibeltexten wie diesem halte er sich nach dem Tod seines Sohnes „im Glauben verankert“ fest, betont Sedmak: „Ich freue mich schon sehr, wenn wir uns dereinst wiedersehen. Und bis es soweit ist, versuche ich, das Beste daraus zu machen. Aber das ist eine große Hoffnungsquelle.“
Die Wunde wird sich nie schließen, der Schmerz nicht verschwinden – aber sie können die Quelle sein, aus der Heilsames entspringt.
Der Verlust habe natürlich Spuren hinterlassen. „Die Wunde wird sich nie schließen, der Schmerz nicht verschwinden – aber sie können die Quelle sein, aus der Heilsames entspringt, die Quelle von menschlicher Nähe und Tiefe“, weiß Sedmak: „Meine Frau und ich haben viel Trost von Menschen erfahren, die uns mittragen. Die uns in unserer Hilflosigkeit das geben, was sie geben können – und das ist sehr viel. Eine demutsstiftende und schöne Erfahrung.“
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