RB: Der Nahe Osten ist ein geopolitischer Brennpunkt, der Libanon geprägt von komplexen Konflikten, historischen Spannungen und vielfältigen (externen) Interessen. Wie haben Sie das Land erlebt?
Kurt Sonneck: Im Libanon reiht sich Krise an Krise. Das beginnt beim Bürgerkrieg (1975 bis 1990), geht über die schwere Wirtschaftskrise 2019 und der Explosion im Hafen von Beirut (2020) bis zu den Kämpfen zwischen Israel und der islamistischen Hisbollah-Miliz im Süden. Das Land, das flächenmäßig kleiner als Tirol ist, ist das Zuhause von sechs Millionen Menschen, darunter sind eineinhalb Millionen geflüchtete Menschen, vor allem aus Syrien. Damit hat der Libanon in Relation zur Gesamtbevölkerung die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen. Überall im Land ist mittlerweile die Armut sichtbar.
RB: Wo ist die Not am größten?
Sonneck: Es fehlt an Trinkwasser, es fehlt an Nahrungsmitteln, es fehlt an medizinischer Versorgung, psychologischer Begleitung, aber auch an Bildungschancen für junge Menschen. Zusammengefasst: Es fehlt an allem. Während wir hier in Salzburg unsere Familien in Sicherheit wissen und keine Angst vor dem nächsten Tag haben müssen, lebt ein Großteil der Menschen im Libanon mit einer ständigen Ungewissheit. Sie wissen nicht, was die Zukunft bringt – für sie selbst und ihre Liebsten. 90 Prozent der Flüchtlinge im Zedernstaat und die Hälfte der libanesischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Eine Million Menschen leidet täglich Hunger. Das sind Fakten.
RB: Geflüchtete haben zudem häufig Traumatisches erlebt.
Sonneck: Die Caritas nimmt sich mit ihrer Partnerorganisation Seenaryo den teils schweren Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen an. Beim Theaterspielen geht es um Themen, über die sie sich sonst nicht zu sprechen trauen. Die Workshops mit Pädagoginnen und Tänzerinnen sind für sie ein sicherer Raum inmitten des instabilen und mühsamen Alltags. Sie können unbeschwert sein, miteinander lachen, spielen oder über Fußball fachsimpeln. Die erste Frage nach einer Probe, bei der ich dabei sein durfte, lautete: Messi oder Ronaldo? Mit meiner Antwort Lionel Messi konnte ich allerdings nicht punkten.
RB: Was lässt die Menschen im Libanon noch hoffen?
Sonneck: Ich habe viele Gespräche mit den Teams der Caritas Libanon geführt. Vor allem abends sind wir beisammengesessen und haben geredet. Die Kolleginnen und Kollegen haben alle Familie oder Freunde, die unter der schwierigen Situation im Land leiden. Jeder kennt jemanden, dem es schlecht geht. Trotzdem bleiben sie positiv und hoffnungsvoll. Sie engagieren sich mit voller Kraft. Das verdient höchsten Respekt. Ich habe auch gesehen, was Hilfe bewirken kann – eben, weil Menschen da sind, die niemals aufgeben.
Jede Begleitung von einem Menschen hinterlässt
Spuren in seiner Biografie.
RB: Die Caritas unterstützt Bildungsprojekte. Ist überhaupt an einen normalen Schulbesuch zu denken?
Sonneck: Bildung wird zum Luxus, eine Mahlzeit zur Überlebensfrage. Schulen im Libanon sind längst nicht mehr nur Orte des Lernens, sie sind Zufluchtsorte im Ausnahmezustand. Für tausende Kinder ist der Unterricht die einzige Möglichkeit, dem Elend daheim für einige Stunden zu entkommen. Schulen sind mehr und mehr zu Schutzorten für junge Menschen geworden. Viele bekommen dort das einzige warme Essen am Tag. Das alles ist für die Kinder ein großes Glück. Am wichtigsten ist jedoch: Bildung ist die Basis für eine bessere Zukunft, für den Weg aus der Armut. Besonders berührt hat mich der Besuch einer Schule in Fghal in der Bekaa-Ebene. Es war sofort zu spüren, nicht die Noten stehen im Vordergrund. Hier geht es um Vertrauen, Zuwendung und echte Fürsorge. Gleichzeitig war der Besuch bedrückend. Wenn man den Kindern in die Augen sieht, denkt man unweigerlich: Das könnten auch meine Kinder sein. Dieser Gedanke rührt zutiefst und macht einem bewusst, wie viel Sicherheit und Stabilität wir oft als selbstverständlich hinnehmen. In den Einrichtungen der Caritas können natürlich bei weitem nicht alle Kinder und Jugendlichen im Land unterrichtet werden. Ich bin aber überzeugt, man muss auf jeden Einzelnen schauen. Jede Hilfe für und jede Begleitung von einem Menschen, egal ob jung oder alt, hinterlässt Spuren in seiner Biografie.
RB: Wie sieht die Unterstützung für ältere Menschen aus?
Sonneck: Ich möchte als Beispiel über ein Gesundheitszentrum in Beirut sprechen. Es ist für sein Angebot an medizinischer Hilfe und psychologischer Betreuung bekannt. Menschen erhalten Medikamente und Hygieneartikel. Ins Haus kommen aber auch Frauen, um an Schulungen teilzunehmen. Sie lernen, wie sie ihr eigenes kleines Geschäft aufbauen und sich damit ein Einkommen für sich und ihre Familien schaffen können.
In Erinnerung bleibt mir noch ein Gespräch mit einer Frau, die jeden Tag im Zentrum anzutreffen ist und mit einer zweiten Ehrenamtlichen Essen kocht. Sie bereiten rund 100 Mahlzeiten zu und bringen sie zu Menschen, die nicht mehr mobil sind – Nachbarschaftshilfe wie sie besser nicht funktionieren könnte.
RB: Armut und Hunger hängen eng zusammen – auch im Libanon. Im Sommer lenkt die Caritas die Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen den Hunger weltweit. Kann dieser Kampf jemals gewonnen werden?
Sonneck: Es ist wichtig für uns alle zu verstehen, dass Hunger und überhaupt Not keine Grenzen kennt. Deswegen reden wir in der Caritas immer von zwei Lungenflügeln: die Hilfe im Inland und die Hilfe im Ausland. Im Libanon sind wir bereits seit Jahrzehnten aktiv. Wir unterstützen die Projekte langfristig und möchten den Menschen wie unseren Partnerorganisationen versichern: Wir sind weiter an eurer Seite. Denn auch Menschlichkeit kennt keine Grenzen.
RB: Was kann jede und jeder tun, um der Caritas und damit den Menschen im Libanon zu helfen?
Sonneck: Die Bevölkerung im Libanon ist darauf angewiesen, dass viele Menschen ihre Hände helfend ausstrecken. Danke an alle, die unsere Projekte in diesem krisengebeutelten Land möglich machen.
„Für eine Zukunft ohne Hunger“ – spenden Sie unter caritas-salzburg.at
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