Feldkirch. Fasten im religiösen Sinn versteht sich als spiritueller Vorgang. Es geht um das Überschreiten der Schwelle der Selbstbezogenheit und Selbstverliebtheit hin zu den Menschen und den Aufgaben in der Welt. Der Aschermittwoch macht mit dem Ritual der Aschenauflegung unmissverständlich klar, dass wir selber nicht das Ziel unseres Lebens sind. Wird ja jedes Leben zunächst im Staub enden.
Heutzutage reiht sich Fasten allerdings vielfach ein in die unzähligen Angebote der Lifestyle-Industrie, die Gesundheit und Heil verspricht. Ernährung, Fitness, Schlaf, Sexualität – möglichst viele Parameter der Lebensführung sollen vermessen und verbessert werden. Perfektion wird zum Imperativ.
Selbstoptimierung und Solidarität sind keine Geschwister.
Diese so genannte Selbstoptimierung hievt uns in einen Diskurs hinein, der deshalb kein harmloser ist, weil darin die Beharrlichkeit einer großen Selbstbezogenheit begegnet, die unbeirrt den eigenen Interessen folgt. In Zeiten multipler Krisen ist die Versuchung groß, sich ins private Glück zurückzuziehen. An die Stelle gesellschaftlichen Handelns und gemeinsamen Gestaltens ist die Investition in die eigene Einzigartigkeit gerückt. Selbstoptimierung und Solidarität sind keine Geschwister.
Einspruch muss erhoben werden, wenn die Vorstellung von einem guten Leben hineingepresst wird in eine Normierung. Wenn festgelegt wird, wer als gesunder Mensch gilt, und dafür bestimmte Aspekte des Lebens ausgeblendet und verleugnet werden. Als ob Glück und Heil Waren oder Dienstleistungen wären, die man sich mit dem richtigen Verhalten erwerben könnte.
Leben ist so viel mehr. Die ganze Vielfalt menschlicher Erfahrungen gehört dazu. Auch die Frage nach dem Widersprüchlichen, nach dem, was sich nicht reimt. In der Akzeptanz, dass es im Leben das Abgründige, Unerreichbare und Unbegreifliche gibt, eröffnet sich erst das, was man mit dem Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, als Freiheit beschreiben kann.
Der Gegenpol zu Selbstoptimierung ist jedoch nicht Passivität und Gleichgültigkeit, sondern mit dem Psychoanalytiker Erich Fromm gesprochen Selbstentfaltung. Diese zielt auf die Verwirklichung der eigenen Potenziale und Leidenschaften, ist aber keine rein private Angelegenheit. Selbstentfaltung braucht und sucht die zwischenmenschliche Verbundenheit. Sie realisiert sich wesentlich auch im Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Wahrnehmen von Verantwortung für die Gemeinschaft.
Eva-Maria Melk-Schmolly ist Psychotherapeutin und Fachberaterin für Weltanschauungsfragen in der Diözese Feldkirch.
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