RB: Der österreichische Sozialstaat lässt niemanden zurück. Stimmt das?
Johannes Dines: Ich bin dankbar, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, in einem gut ausgebauten Sozialstaat. Es geht nicht alles den Bach runter. Und doch, wenn wir über Armut sprechen, dann müssen wir über die 14,8 Prozent sprechen, die nach der EU-SILC-Statistik armutsgefährdet sind und jene 2,3 Prozent, die ein so geringes Einkommen haben, dass sie sich wesentliche Lebensbereiche nicht leisten können.
Der Alltag ist teurer geworden, das merken wir alle. Für einen Teil der Bevölkerung, Alleinerziehende, Mindestpensionisten, Langzeitarbeitslose, Menschen in schlecht bezahlten Jobs, ist es existenzbedrohend. In der Sozialberatung, persönlich und online, nehmen die Gespräche zu – 16.000 Kontakte im Jahr 2023. Oft sagen die Leute: Ich hätte nie gedacht, dass ich bei der Caritas anklopfen muss, doch ich schaffe es nicht mehr ohne Hilfe. Die Auswirkungen sehen wir auch im Tageszentrum in der Stadt Salzburg. Im Haus Elisabeth haben wir eine Steigerung bei den Gästen von 50 Prozent innerhalb eines Jahres, von 14.000 auf 21.000 Menschen. Das sind bei weitem nicht nur Obdachlose. Es sind zum Beispiel ältere Menschen, die ihre Wohnung nicht ausreichend heizen können.
RB: Wie soll hier die Politik gegensteuern?
Dines: Die Bundesregierung hat wichtige Maßnahmen zur Abfederung der Teuerung ergriffen, darunter Einmalzahlungen, die Valorisierung von Sozialleistungen und die de facto Abschaffung der Kalten Progression. Der Druck, der auf den Schultern vieler Menschen lastet, ist aber nach wie vor enorm. Für sie braucht es jetzt einen armutsfesten Sozialstaat ohne Lücken. Es geht auch darum, Menschen in das soziale Leben zu integrieren. Wer jeden Euro umdrehen muss, der kann nicht auf einen Kaffee oder ins Kino gehen. Als Caritas und als Kirche treten wir für ein würdevolles Leben ein. Jeder Mensch soll zumindest halbwegs mit seinem Einkommen auskommen können und nicht dauerhaft auf Hilfe angewiesen sein. Die Menschen wollen ihr Leben selber in der Hand haben und niemandem zur Last fallen.
RB: 2024 ist ein Superwahljahr – Auftakt ist die Salzburger Gemeinderatswahl am 10. März. Leistbares Wohnen ist eines der wichtigen Themen.
Dines: Hohe Miet- und Energiekosten und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum machen den Leuten zu schaffen. Sie müssen häufig 50 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aufwenden. Es braucht alle Anstrengungen, damit Wohnen nicht noch mehr zum Armutsfaktor wird. Das heißt, den geförderten Wohnbau ausbauen, vernünftige Mietpreise, Starterwohnungen. Und wir müssen jenen helfen, die auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben.
Die Caritas tut das mit „Meinzuhaus“. Gemeinsam mit dem Salzburger Studentenwerk stellen wir 55 Wohnungen für Menschen in Not bereit. Das „SafeHome“ der Caritas bietet gewaltbetroffenen Frauen und Kindern in 34 Wohnungen einen Neuanfang. Bei allem: Wir müssen vor allem gut auf die Kinder achten. Bildungsarmut oder das Aufwachsen in Gewaltfamilien traumatisiert. Sie brauchen ein stabiles Umfeld, damit sie die Schule abschließen können, ansonsten ist ihr Weg vorgezeichnet.
RB: Im März steht die Haussammlung an. Gelingt es, ausreichend Freiwillige zu motivieren?
Dines: Die Haussammlung ist eine der zentralen Sammlungen, die ein Viertel des Spendenaufkommens für Salzburg und den Tiroler Teil der Erzdiözese ausmacht. 40 Prozent bleiben in den Pfarren. Der Rest finanziert lokale und regionale Aufgaben wie die Caritas-Zentren, Projekte für pflegende Angehörige oder die Obdachlosenhilfe.
Die Haussammlung setzt ein Zeichen für
Solidarität und gegen Egoismus und Isolation.
Wir sind sehr dankbar für unsere Haussammlerinnen und Haussammler. Leichter wird es aber nicht. Die Anzahl sinkt, das hängt mit der Altersstruktur zusammen. Nicht mehr alle Gebiete können von den Pfarren abgedeckt werden. Grundsätzlich steht die Haussammlung für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Menschen gehen für Menschen in Not. Damit verbunden ist eine Sensibilität für Betroffene in meinem Umfeld, die Hilfe brauchen. Es geht nicht nur darum, Geld zu geben. Nachdem Not mit Scham verbunden ist, ist sie oft versteckt. Manche Pfarren sagen, wir wissen gar nicht, wer Hilfe braucht. Die Haussammlung kann dem entgegenwirken und das Aufeinander schauen aufrechterhalten.
Wir haben füreinander Verantwortung, für das, was um uns herum passiert. Es kann mich genauso treffen und ich wäre froh, wenn dann jemand den Blick auf mich hat und sagt: Du bist nicht alleine.
An Menschen, denen dieser Aspekt wichtig ist, möchte ich appellieren, sich bei der Pfarre oder der Caritas zu melden. Als Haussammlerin oder Haussammler können sie Botschafter für Solidarität in der Gesellschaft sein und ein Zeichen gegen Egoismus und Isolation setzen. Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der jeder die Tür zumacht und in der Not alleine ist und alleine leidet.
RB: Vieles von dem, was „Caritas“ bedeutet, macht die Haussammlung lebendig: Einsatz im Dienst der Nächstenliebe, Auf-Menschen-Zugehen….
Dines: Die Haussammlung steht für das Selbstverständnis der Caritas. Ein früherer Caritas-Direktor hat gesagt, es gibt drei Arten von Caritas:
Die erste Caritas ist jeder Mensch. Das heißt, achtsam sein, teilen und wie der barmherzige Samariter an der Not nicht einfach vorübergehen.
Die zweite Caritas ist die Pfarre, die Gemeinschaft. Es kann nicht einer alles alleine lösen, es braucht das „Dorf“, das sich kümmert.
Die dritte Caritas leisten wir. Es gibt Herausforderungen, die hohe Expertise brauchen und professionelle Unterstützung wie zum Beispiel in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Alle drei Ebenen gehören zusammen. Das heißt, jeder übernimmt Verantwortung und die Gemeinschaft schaut, wo können wir helfen? Darüber hinaus gibt es Aufgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich, die bei uns, in der Organisation Caritas, gut aufgehoben sind, da sie der Einzelne oder die Gemeinde nicht stemmen können.
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