RB: Viele haben vom Sturz von Baschar al-Assad geträumt. Im Dezember 2024 war es soweit. Wenn Sie heute die Lage mit jener vor einem Jahr vergleichen – sehen Sie eine Verbesserung oder eine Verschlechterung?
Karim Finianos: Das hängt davon ab, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Aus der Sicht eines christlichen Bürgers in Syrien gibt es im Grunde keine wesentliche Verbesserung. Im Gegenteil. Alleine einer Minderheit anzugehören kann gefährlich sein – sei es als Christ, Alawit oder Druse. Wobei Christen einen kleinen „Vorteil“ haben. Die neuen Machthaber müssen ihr Image in westlichen Ländern wahren. Sie wissen, sobald sie beginnen, Christen in irgendeiner Form anzugreifen, könnten sie eine Reaktion aus dem Westen provozieren. Um die Frage allgemein zu beantworten: Die Lebensbedingungen haben sich etwas verbessert. Das allgemeine Preisniveau ist leicht gesunken, mit Ausnahme der Bereiche Energie und Transport. Aber was die Sicherheitslage im Land angeht: Sie ist schlecht, schlechter als zuvor.
RB: Nach Jahrzehnten der Isolation hat zum ersten Mal wieder ein syrischer Präsident vor den Vereinten Nationen gesprochen. Sein Land strebe nach Stabilität und Sicherheit, sagte Ahmed al-Scharaa in seiner Rede. Ist der Wandel vom Rebellenführer der islamistischen HTS-Miliz zum Politiker glaubwürdig?
Karim Finianos: Er ist von einem der meistgesuchten Männer der Region zu einem willkommenen Syrer in New York geworden. Was ist in einem Jahr passiert? Ich bin realistisch. Nicht alle Veränderungen sind gut. Trotzdem versuche ich immer, das Glas halb voll zu sehen und nicht halb leer. Die entscheidenden Fragen lauten: Ist al-Scharaa ernsthaft daran interessiert, demokratische Reformen voranzutreiben und sicherzustellen, dass Minderheiten im politischen System vertreten sind? Meint er es ernst mit ihrem Schutz nach den Massakern, die stattgefunden haben? Wir müssen auch genau beobachten, was in den kommenden Monaten geschieht.
Am 5. Oktober fanden teilweise Parlamentswahlen statt, wobei 30 Prozent der Abgeordneten ernannt und die anderen zwei Drittel gewählt wurden. Lassen Sie uns danach sehen, wie er mit den kurdischen Kräften im Norden Syriens umgehen wird. Und lassen Sie uns sehen, ob er ein Sicherheitsabkommen mit Israel erreichen wird, wie er es angekündigt hat. Er muss viele Probleme lösen. Aber das Wichtigste für ihn und die Regierung: Sie brauchen das Vertrauen der Menschen. Es ist etwas anderes eine Region wie Idlib zu beherrschen (Anm.: bevor die islamistische Miliz HTS die Macht in Damaskus übernahm, regierte sie einen autoritären Parallelstaat in Idlib) oder ein Land, in dem mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Minderheiten angehören. Es gibt Kurden, Alawiten, Drusen, Schiiten und Christen. Wie werden diese Minderheiten integriert? Darum geht es.
Christen glauben an die Hoffnung. Mein Glaube zeigt sich konkret vor Ort – in meiner humanitären Arbeit.
RB: Sprechen wir über die Christen. Wie viele leben noch im Land?
Karim Finianos: Vor dem Krieg 2011 machten Christen etwa 10 Prozent der syrischen Bevölkerung aus. Das waren ungefähr 2,5 Millionen Menschen. Heute sprechen wir von 1,5 Prozent, also von rund 300.000. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Christen unterstützen, die noch in Syrien leben? Denn, irgendwann geht es nicht mehr darum, wie viele Christen in Syrien leben, sondern, ob im Land überhaupt noch Christen sind. Es ist dramatisch, beinahe alle qualifizierten Leute sind geflohen. Und alle, die derzeit studieren, suchen nach einem Weg, das Land zu verlassen. Das betrifft auch mein persönliches Umfeld. Die Mehrheit meiner Cousins und Cousinen ist nicht mehr in Syrien. Sie haben sich in Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweden, Kanada, Dubai oder Ägypten neue Existenzen aufgebaut und kommen nicht mehr zurück. Um es kurz zu machen: Die Christen im Nahen Osten sind auf die Solidarität der Welt angewiesen. Ansonsten werden zum Beispiel die noch verbliebenen 300.000 in Syrien jede Gelegenheit nützen, das Land zu verlassen.
RB: Was hält Sie persönlich weiter in Syrien?
Karim Finianos: Christen glauben an die Hoffnung. Mein Glaube zeigt sich konkret vor Ort – in meiner humanitären Arbeit. Das ist meine Mission.
RB: Wie kann die Hilfsorganisation „People of Mercy“ die Menschen unterstützen?
Karim Finianos: „People of Mercy“ hat rund 100 Mitarbeitende – 30 in Damaskus und 70 in Latakia. Wir sind hauptsächlich im Bildungsbereich tätig. Zu unseren Aufgaben gehören aber auch Nothilfe und Gesundheitsversorgung. ICO ist einer unserer wichtigsten europäischen Partner. Zu Beginn des Jahres hatten wir ein Projekt, das sich hauptsächlich an die christliche Gemeinschaft richtete. Nach dem Massaker islamistischer Kämpfer in der Küstenregion an Alawiten im März haben wir mit ICO den dortigen Gemeinden geholfen. Generell sind wir neutral und reichen unabhängig von Glaube, Hautfarbe oder Herkunft, jedem der sie bracht, eine helfende Hand.
RB: Was können wir hier in Österreich tun?
Karim Finianos: Meine erste Botschaft: Betet für uns. Wir brauchen Hoffnung. Und wir brauchen konkrete finanzielle Unterstützung. Nur so können wir Projekte durchführen, von denen immer auch christliche Gemeinden profitieren. Damit tragen wir dazu bei, dass in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren noch Christen im Nahen Osten leben.
Wenn mich die Menschen in Österreich oder anderswo in Europa fragen, wie sie helfen können, habe ich eine einfache Antwort: Anstatt einen zweiten Kaffee zu bestellen, spenden Sie dieses Geld an die Kirche oder eine entsprechende Organisation. Macht das jeder europäische Christ und jede europäische Christin einmal im Jahr – das würde einen großen Unterschied machen.
Wissenswert
People of Mercy (Menschen der Barmherzigkeit) wurde 2017 von lokalen Freiwilligen gegründet, um die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Bedingungen in Syrien zu verbessern. Ende des Jahres ist geplant unter dem Namen „Lasst uns gemeinsam handeln“ zu wirken. „Das trifft unsere Leitphilosophie der Solidarität noch mehr“, sagt Leiter Karim Finianos. Unverändert bleibt die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Hilfswerk ICO. Schwerpunkt ist die Förderung von Bildung in einem vom Krieg zerrissenen Land mit einer sehr großen Zahl von Schulabbrechern und Kindern ohne Schulbildung. Teil des Angebots sind auch Ausbildungszentren vor allem für Frauen. Hier können sie einen Beruf wie zum Beispiel Näherin erlernen.
Die Initiative Christlicher Orient (ICO) setzt ihren Schwerpunkt auf Bildung im Nahen Osten.
www.christlicher-orient.at
Der Nahe Osten ist die Wiege des Christentums. Die unsichere Lage in Ländern wie Syrien oder dem Irak (im Bild die Glocke einer renovierten Kirche in Mossul) treibt die ohnehin starke Abwanderung der Christen weiter. Das in Linz ansässige Hilfswerk „Initiative Christlicher Orient“ (ICO) ist seit langem in der Region aktiv. Traditon hat auch eine Tagung, die im Herbst in St. Virgil stattfindet. In seinem Grußwort rief Erzbischof Franz Lackner dazu auf, die dramatische Situation der Orient-Christen nicht aus den Augen zu verlieren. Deren Lebenssituation sei vielfach von Armut und Gewalt geprägt. Der Orient sei aber der Ursprungsort des Christentums, so Lackner: „Wir schulden dieser Heilsgeografie unseren Glauben.“
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